Tallinn – Green Capital im E-State Estland

Kaidi Aher zeigt, wo ein so genannter "pollinator highway" für mehr Biodiversität künftig entlangführen soll.
Kaidi Aher zeigt, wo ein so genannter "pollinator highway" für mehr Biodiversität künftig entlangführen soll.

Kaidi Aher schaut den Gast aus Brandenburg freundlich zugewandt an. Es ist noch nicht lange her, da war sie in Deutschland zu Gast. Schrecklich kompliziert sei alles bei uns. „Wie könnt ihr nur so leben?“, fragt sie – und lacht.

Kaidi Aher arbeitet in der Verwaltung der estnischen Hauptstadt Tallinn, wo der Öffentliche Personennahverkehr schon seit 2013 für die Einwohner*innen kostenfrei ist, wo man kein Rezept in der Apotheke braucht und wo sie ihr Kind, wenn es krank ist, per App von der Schule abmelden kann. Die Räume der Tallinner Stadtverwaltung, in der wir uns treffen, sehen ziemlich genau so aus wie in Deutschland, zweckmäßig, schlicht. Der entscheidende Unterschied: Publikumsverkehr gibt es hier so gut wie keinen.

Mit Vize-Bürgermeister und Kongress-Mitglied Andrei Novikov im Rathaus von Tallinn.

„Nur zum Heiraten und um sich wieder scheiden zu lassen, müssen die Menschen persönlich erscheinen“, erklärt Andrei Novikov. Er ist Vizebürgermeister und ein Kollege aus dem Kongress der Gemeinden und Regionen Europas. Gemeinsam mit Kaidi Aher und Pille Tammeveski erklärt er mir, wie der „E-State“ Estland funktioniert, soweit das in einer knappen Stunde möglich ist.

Apropos möglich: Dass es überhaupt möglich war, öffentliche Dienstleistungen nahezu komplett zu digitalisieren, geht auf den Zusammenbruch der Sowjetunion zurück. Mit der Unabhängigkeit änderte sich fast alles im Leben der Esten. Die Verwaltung musste komplett neu aufgestellt werden – und so wurde sie schon in den 90er-Jahren digital. Der große Bruch war offenbar der perfekte Zeitpunkt, etwas zu etablieren, das für uns auf Datenschutz bedachte Deutsche wie ein dystopischer Alptraum klingt: Dauerhafter Zugriff aller öffentlichen Institutionen auf sämtliche persönlichen Daten, die Bürger*innen einmal dem Staat mitgeteilt haben.

Jede Estin und jeder Este hat als Ausweisdokument eine ID-Karte, die in den Laptop gesteckt wird, per PIN-Code wird die Identität verifiziert. So können Dokumente unterzeichnet, Anträge gestellt werden. Wenn denn überhaupt noch Anträge nötig sind. Denn lokale Leistungen erbringt die Stadtverwaltung dank des uneingeschränkten Datenzugriffs zunehmend proaktiv: Stirbt einer von zwei Eheleuten, bekommt die hinterbliebene Person automatisch Witwenrente. Wird ein Kind geboren, soll das in Tallinn schon bald ähnlich vonstattengehen: Soziale Leistungen, auf die Eltern einen Anspruch haben, werden dann automatisch kurz nach der Geburt auf deren Konto landen.

Pille Tammeveski zeigt, wie digitale Verwaltung funktioniert, nämlich ohne Frage unkompliziert und bequem: Fast alle öffentlichen Dienstleistungen lassen sich mit der ID-Karte am heimischen Rechner abrufen.

Und da gibt es keine Sorgen, was den potenziellen Missbrauch der persönlichen Daten durch den Staat angeht, keine Proteste von Datenschützer*innen? Kaidi Aher muss über diese Frage noch mal lachen. „Nein, im Gegenteil! Als der Austausch der Chips der ID-Karten nötig wurde, sind die Leute auf die Barrikaden gegangen, weil sie nach Jahren mal wieder ins Rathaus kommen mussten.“

Das große Vertrauen der Menschen erklären sie und ihre Kollegin Pille Tammeveski unter anderem damit, dass jeder und jede immer nachvollziehen könne, wann der Staat auf welche Daten zugreift. Außerdem haben die Bürger*innen Anspruch auf Auskunft, warum und von welcher Stelle dieser Zugriff erfolgt ist.

Großes Vertrauen bedeutet übrigens nicht, dass die Menschen alle Aktivitäten der Verwaltung kritiklos hinnehmen. Das spürt Kaidi Aher ausgerechnet in ihrer Rolle als „Head of Communication for European Green Capital 2023“ sehr stark. Dass Tallinn im nächsten Jahr Umwelthauptstadt Europas wird, hat eigentlich jede Menge positive Effekte für die Einwohner*innen und geht nicht zuletzt darauf zurück, dass die Stadt bereits entscheidende Schritte gegangen ist auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit. Aber: „Wir müssen die Menschen davon überzeugen, dass wir keine Verschwörung gegen sie planen“ – Kaidi Aher lacht schon wieder – „etwa, wenn wir den Autos Platz wegnehmen.“

Denn ausgerechnet beim Thema nachhaltige Mobilität sieht die Jury der Europäischen Kommission, die den Titel Umwelthauptstadt vergibt, Nachholbedarf in Tallinn – dem kostenfreien ÖPNV zum Trotz. Noch immer fahren viele Menschen lieber mit dem Auto durch die Stadt. „Weniger Platz für Autos, mehr für die Menschen“, lautet deshalb das Credo, auf das sich viele der anstehenden Aktivitäten fokussieren: Fahrräder und Menschen, die zu Fuß gehen, sollen ebenso mehr Raum bekommen wie Busse – und die Natur.

Tallinn – the European Green Capital 2023

Das Ziel, das jeder Mensch in Tallinn weniger als 300 Meter zur nächsten Grünfläche zurücklegen muss, ist fast erreicht, unter anderem mit Dutzenden Bürgergärten, die die Stadt großzügig fördert. Hinzu kommen so genannte „Pollinator Highways“, die mit Autobahnen nur den Namen gemein haben: Mehrere kilometerlange grüne Korridore, die miteinander verbunden sind, sollen künftig die Stadt durchziehen, Biodiversität sichern und gleichzeitig für den Rad- und Fußverkehr zur Verfügung stehen.

Alles schön und gut, aber wie lassen sich denn nun die Menschen davon überzeugen? Ein Weg: Beteiligung. Die Einwohner*innen sollen aktiv mitentscheiden können, was sich im Sinne der Nachhaltigkeit in ihrer Nachbarschaft bewegt, etwa in Bürgerräten. Eine Million Euro lässt sich die Stadt 2023 allein diese partizipativen Prozesse kosten – auf dass alle mitgenommen werden auf dem Weg zu mehr Einklang zwischen Mensch und Natur mitten in der Stadt.