DARUM EUROPA – Rede zum Gedenken am Volkstrauertag

Beim Gedenken zum Volkstrauertag auf dem Lehnitzer Friedhof mit unserem Stadtverordneten Robert Wolf sowie Anne Schumacher und Elisabeth Mandl-Behnke vom bündnisgrünen Ortsverband.
Beim Gedenken zum Volkstrauertag auf dem Lehnitzer Friedhof mit unserem Stadtverordneten Robert Wolf sowie Anne Schumacher und Elisabeth Mandl-Behnke vom bündnisgrünen Ortsverband.

Heute durfte ich auf dem Lehnitzer Friedhof die Rede beim zentralen Gedenken des Landkreises zum Volkstrauertag halten:

„Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
sehr geehrte Herren Pfarrer Farack und Müller,
sehr geehrter Herr Vorsitzender des Volksbundes,
liebe Kolleginnen und Kollegen Landtagsabgeordnete,
sehr geehrter Herr Vorsitzender des Kreistags und liebe Kreistagsabgeordnete,
lieber Vorsitzender der Stadtverordnetenversammlung und werte Stadtverordnete,
sehr geehrter Herr Ortsvorsteher und liebe Ortsbeiräte,
meine Damen und Herren,

es ist mir eine besondere Ehre, heute am Volkstrauertag hier in meinem Heimatort Lehnitz die Gedenkrede halten zu dürfen. Ich danke Ihnen, Herr Ney, und dem Volksbund für das mir damit entgegengebrachte Vertrauen.

Vielleicht ist es für einen grünen, ungedienten Politiker, der Militär eher kritisch beäugt, eine besondere Herausforderung, an einem solchen Tag zu sprechen. Und gerade deshalb habe ich zu der Anfrage gerne Ja gesagt.

Meine Damen und Herren,

wir stehen hier am Grab von 17 Männern, die im Zweiten Weltkrieg in deutscher Uniform ihr Leben lassen mussten. Wir verneigen uns im Gedenken an ihren Tod. Sie wurden Opfer eines Krieges, der von Deutschland vom Zaun gebrochen wurde, grausam in Europa wütete und in grausamer Weise wieder in sein Ursprungsland zurückkam.

Kurt Tucholsky schreibt 1931 in einer Glosse den Satz „Soldaten sind Mörder“ und greift damit eine seit 1.700 Jahren geführte Debatte über die Ethik des Soldatenberufs auf.

Ich würde sagen: Soldaten sind Opfer. Sie sind immer Opfer einer gescheiterten Politik, die nicht in der Lage war, Konflikte friedlich beizulegen.

Oder wie im Zweiten Weltkrieg Opfer einer Politik, die auf Expansion und Gewalt aus war und Völkermord und Krieg über unseren Kontinent brachte.

Die Soldaten waren auch Opfer einer Gesellschaft, die sich hat aufhetzen lassen, die diese verbrecherische Politik ermöglicht, geduldet und letztendlich unterstützt hat.

Das darf nie wieder geschehen und deshalb ist es wichtig, damals, heute und morgen, wichtig, dass wir als Gesellschaft Ausgrenzung und Gewalt entgegentreten. Dass wir nicht akzeptieren, wenn Menschen, egal wo oder warum sie herkommen, egal, welche Meinung sie vertreten, ausgegrenzt werden. Das gilt für Geflüchtete, für Lesben und Schwule übrigens genauso wie für SUV-Fahrer und Impfverweigerer. Ein jeder möge sich hier an seine eigene Nase fassen!

Wenn wir heute einen Krieg in Zentraleuropa für undenkbar halten, so deshalb, weil es die Politik gerade im Angesicht der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs vermocht hat, Europa zu einigen. Deshalb hat mich das Plakat- und Postkartenmotiv, das der Volksbund gewählt hat, schwer beeindruckt. Über endlosen Reihen von Kreuzen auf den Kriegsgräbern steht der Spruch: „DARUM EUROPA!“

Ja, und ich glaube, wir vergessen viel zu oft, was der Europäische Gedanke zuerst und ganz grundlegend bedeutet: Kein Krieg!

Wenn wir an die europäischen Ziele denken, gemeinsame Freiheit, gemeinsamer Wohlstand und gemeinsame Werte, dann sind das alles Faktoren, die einen Krieg verhindern. Deshalb ist es fahrlässig, wenn es heute wieder eine Partei im Bundestag gibt, die den Austritt aus der Europäischen Union fordert, die Hand an die Staaten­gemein­schaft legt, die uns die längste Friedensperiode für diesen Kontinent beschert hat. Neuer Nationalismus beschwört alte Gefahren herauf.

Und meine Damen und Herren,

wenn wir über Europa reden, müssen wir uns aber auch bewusstmachen, dass Europa nicht an der Ostgrenze Polens endet. Wir sehen, dass kriegerische Konflikte nach wie vor auch in Europa an der Tagesordnung sind. Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan sind europäische Konflikte. Deshalb müssen wir auch mit den Staaten Europas im Gespräch bleiben, die nicht Teil der EU sind

Ich bin als Vertreter des Landtags Brandenburg Mitglied in einem Gremium des Europarats, wo Vertreter der lokalen und regionalen Ebene aus ganz Europa – also nicht nur der EU – zusammenkommen, um die Herausforderungen unserer Zeit zu diskutieren. Hier wird deutlich, dass alle Staaten in Europa vor denselben Aufgaben stehen, von der Migration über Themen wie das lebenslange Lernen bis zur Bekämpfung der Klimakrise. All diese Herausforderungen können wir nur gemeinsam in Europa bewältigen und nicht gegeneinander. Zusammenarbeit in allen Bereichen ist das beste Mittel gegen bewaffnete Konflikte. DARUM EUROPA!

Meine Damen und Herren,

lassen Sie uns gemeinsam schauen auf die 17 Männer, die hier auf dem Friedhof in Lehnitz begraben liegen, die ihr Leben als Soldaten im Zweiten Weltkrieg verloren. Sie sind Opfer des Krieges, inwieweit waren sie auch Täter?

Meine Damen und Herren,

ich weiß es nicht.
Was ich weiß ist, dass im Tod alle wieder vereint sind. Wenn wir sagen, vor Gott sind wir alle Sünder, so heißt das für mich als Christ auch, dass wir Menschen die Toten nicht richten sollen. Und das will ich auch nicht tun.

Aber über ein paar Schicksale berichten diese Gräber, zumindest soweit wir sie als Nicht-Historiker recherchieren konnten.

Fest steht, dass die 17 Toten, die hier in Lehnitz liegen, genau das abbilden, was sich auch in der Debatte um die Erinnerungskultur in Deutschland zeigt: Die große Heterogenität der in Kriegsgräbern Beigesetzten: vom 36-jährigen Panzergrenadier, Mitglied der verbrecherischen Waffen-SS, bis zum jugendlichen Luftwaffenhelfer, der 17-jährig gefallen ist.

Alfred Kiellisch war der jüngste der fünf vom 20. bis zum 22. April 1945 hier im Bodenkampf gefallenen Soldaten. Der in Ostpreußen geborene Luftwaffenhelfer war gerade 17 Jahre alt geworden, als er hier, vermutlich fernab der Heimat starb. Was für Träume hatte er vom Leben? Hatte er überhaupt Träume, er, der seiner Jugend beraubt wurde? Träumte er vom Frieden oder glaubte er noch an den Sieg?

Sechs Männer fielen bereits früher, Lehnitzer Einwohner, darunter ein Tapezierer, ein Angestellter, ein Maler. Sie starben in verschie­denen Lazaretten oder auf dem Schlachtfeld in Polen und wurden in ihre Heimat überführt.

Sechs Männer waren Flieger der Versuchsanstalt für Höhenflüge. Sie starben im Januar und Februar 1945 als Testpiloten bei Flügen, die vom nahen Flugplatz der Heinkel-Werke starteten. Sie wohnten hier in Lehnitz nicht weit vom Friedhof in der 1941 bis 43 auch durch Zwangsarbeiter aus dem KZ Sachsenhausen gebauten Ritterkreuz­siedlung, heute Waldsiedlung genannt.

Der letzte der Flieger, Erwin Ziller, stürzte am 18. Februar 1945, also nicht einmal 3 Monate vor Ende des Krieges,  mit einem neuartigen Nurflügler der Gebrüder Horten ab. Beim dritten Testflug, es herrschten keine optimalen Wetterbedingungen, gab es in großer Höhe offenbar einen Triebwerksausfall.  Im späteren Verlauf überschlug sich die Maschine mehrfach und zerschellte schließlich auf dem gefrorenen Boden.

Erwin Ziller wurde aus der Maschine gegen einen Baum geschleudert und war sofort tot. Es bleibt rätselhaft, warum der Pilot nicht zuvor Sprechfunk, Schleudersitz und Rettungsfallschirm genutzt hatte. Hatte er bis zuletzt versucht, das kostbare Flugzeug zu retten? Hatte er daran geglaubt, dass man es noch in Stückzahlen produzieren und in Betrieb setzen könnte, um den Krieg doch noch zu gewinnen?

Wir wissen es nicht. 17 Schicksale, 17 mal viele Fragen.

Diese 17 Toten mahnen uns stellvertretend für geschätzt 65 Millionen Menschen, Soldaten und Zivilisten, die im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen sind.

Meine Damen und Herren,
diese Kriegsgräberstätte, an der wir hier stehen, wurde aus dem Nachlass von Marie Torhorst aufgebaut und finanziert.

Marie Torhorst, die ab 1951 in Lehnitz lebte und am 7. Mai 1989 im Alter von 100 Jahren verstarb, hatte es testamentarisch so verfügt.

Die Kommunistin war im dritten Reich Teil des Widerstandes und nach dem Krieg die erste Frau, die in Deutschland Ministerin wurde, nämlich Bildungsministerin in Thüringen.

Ich finde es höchst bemerkenswert, dass einer Frau, die das Naziregime des Dritten Reiches ablehnte und bekämpfte, die Pflege von Soldatengräbern ein Anliegen war, von Soldaten, die genau diesem Regime dienten.

Meine Damen und Herren,
das zeigt mir, dass es keine einfachen Antworten gibt und dass es Versöhnung über den Gräbern geben muss.

Es zeigt auch, dass wir alle, unabhängig von unserer politischen und weltanschaulichen Einstellung, eine gemeinsame Verantwortung für unsere Gesellschaft tragen, gegen Ausgrenzung, für den Schutz von Minderheiten, für Toleranz,

dass wir alle für ein geeintes Europa eintreten sollten, für Zusammen­arbeit und Wohlstand für alle Menschen in Europa und darüber hinaus,

dass Gesprächsfäden nicht abreißen dürfen, weder in unserem eigenen Land noch international.

Das ist eine ständige Aufgabe nicht nur der Politik, sondern jedes einzelnen Menschen. Dann können wir dafür sorgen, dass zu den alten Soldatengräbern keine neuen hinzukommen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“