Transformation. Eigentlich können sie das Wort nicht mehr hören in Schwedt. Zumindest in der Runde, die ich Anfang der Woche in der Leipa-Papierfabrik getroffen habe – dem zweiten großen Unternehmen am Platz. Das erste, mittlerweile deutschlandweit bekannte ist natürlich die PCK-Raffinerie, deren Relevanz der russische Angriffskrieg uns schmerzlich ins Bewusstsein gerückt hat – und im Zuge dessen auch unsere eigene Verletzlichkeit.
„Wenn PCK ein Problem hat, haben alle ein Problem“, sagt Sascha Lademann vom hiesigen Start-up Labor. Ihn habe ich gemeinsam mit Vertretern von Leipa, der PCK, der Stadt und dem Landkreis Uckermark getroffen, um über Schwedts Zukunft zu reden. Und damit natürlich auch über die unbedingte Notwendigkeit der Umgestaltung der hiesigen Wirtschaft, die lange Zeit vom russischen Öl abhängig gewesen ist – auf Gedeih und Verderb.
Seit Februar 2022 vor allem letzteres, und über Monate war die Rettung von PCK Thema Nummer eins in der Region. Mittlerweile gibt es nicht nur gesicherte Öl-Lieferungen aus anderen Ländern, sondern auch eine Vision für die Zukunft der Raffinerie, und die heißt Erneuerbare Energie-, Chemie- und Kraftstoff-Verbund. Transformation also!
Deren Notwendigkeit stellt natürlich niemand in der Runde ernsthaft in Frage – eher die inflationäre Verwendung des Begriffs. Denn sie sind ja längst dran an den Problemen und benennen diese sehr klar: Unzählige Unternehmen in und um Schwedt sind heute zu hundert Prozent abhängig von der Raffinerie. Die geringe Diversifizierung der Wirtschaft war schon immer eine strukturelle Schwäche: PCK, Leipa – und dann kommt ganz lange nichts. Weitere Schwächen: der Mangel an Arbeitskräften, sowohl quantitativ als auch qualitativ, die fehlende Forschung und Entwicklung vor Ort, die nicht vorhandene Schienen-Anbindung an die Metropole Stettin – so viel näher dran als Berlin und doch so fern am anderen Ufer der Oder gelegen.
Dennoch: Ausgeliefert fühlt sich hier niemand, stattdessen herrscht erkennbar Aufbruchsstimmung. Mit einem Innovationscampus wollen sie Startups und Wissenschaftler*innen nach Schwedt locken, geforscht werden könnte etwa zum Thema Energieeffizienz. Investoren und Gründer*innen hat Schwedt eine Menge zu bieten: eine starke Prozessindustrie, eine ausgesprochen gut ausgebaute Infrastruktur mit Hafen, städtischem Fernwärmenetz und industrieller Medienversorgung, erschlossene Industrieflächen. Dazu kommt ein hoher Ausbaustand bei den Erneuerbaren Energien – und nicht zuletzt große Player vor Ort, die offen dafür sind, ihre Ressourcen zu teilen.
Im Fall von Leipa ist das im Reallabor Biokreislaufökonomie sehr konkret zu sehen: Dieses ermögliche Industrie, Wissenschaft und Zivilgesellschaft die gemeinsame Erprobung neuer Technologien in einem experimentellen Umfeld, formuliert es Felix Lösch, Geschäftsführer von Leipa Logistik. Sein hemdsärmeliger Kollege, Leipas technischer Leiter Steffen Deszpot, nennt es dagegen augenzwinkernd „Spielwiese“: eine große Maschinenhalle auf dem Leipa-Gelände, die Startups offensteht.
Erster Nutzer des Reallabors ist der aus Schottland stammende Designer Richard Hurding. Wenn das Reallabor eine Spielwiese ist, sind vermeintliche Abfälle aus Landwirtschaft und Industrie sein Spielzeug. Aus „Resten von Resten“ entwickelt Hurding Produktideen und vermarktet die Lizenzen. Bananenschalen, Weizenstroh, Schilf, selbst Klärschlamm aus der Leipa-Papierproduktion: Das alles sind für den Designer Rohstoffe. Daraus macht er Fasern, die ohne Bindemittel und ohne Plastik zu Möbeln, Baustoffen oder auch Einweggeschirr und Kaffeekapseln werden.
Zelfo Technology heißt seine Firma, und sie kooperiert eng mit einem weiteren Startup vor Ort: Bio-Lutions produziert in Schwedt biologisch abbaubare Verpackungen und Einweggeschirr – und will seine eigene Forschung und Entwicklung demnächst ins Reallabor verlegen. Gemeinsam haben Zelfo und Bio-Lutions 2021 den Brandenburger Innovationspreis gewonnen – und das Preisgeld an Schwedter Bildungseinrichtungen gespendet. Es geht also durchaus: Forschung, Entwicklung, Innovation am äußersten Rand Brandenburgs. Noch ist die nachhaltige und fossilfreie Wirtschaft ein zartes Pflänzchen in Schwedt – aber eines auf Wachstumskurs!