Was uns eint: Offener Austausch zu europäischen Ideen auf Schloss Genshagen

Was macht Europa aus? Welche Ideen halten Europa zusammen und wo sind die Grenzen Europas? Gilt heute noch, was Jean Monnet – ein Vordenker der europäischen Idee – einst sagte: „Europa wird aus Krisen geboren“? Oder ist es vielmehr so, dass wir derzeit eine Zersetzung Europas erleben, befeuert durch multiple Krisen und einen erstarkenden Nationalismus?

Fragen wie diese standen im Mittelpunkt eines Symposiums, zu dem die Stiftung Genshagen in der Adventszeit Vertreter*innen aus Wissenschaft, Politik und Journalismus aus ganz Europa nach Schloss Genshagen eingeladen hatte. Die Überschrift der Tagung lautete „Shades of Blue: Claiming Europe in the Age of Disintegration“ und ist zugleich der Titel des Buchs einer Gruppe junger Wissenschaftler*innen: Félix Krawatzek, Friedemann Pestel, Rieke Trimcev und Gregor Feindt haben über mehrere Jahre Tausende Artikel großer europäischer Zeitungen gelesen und ausgewertet, um herauszufinden, was es ist, das uns Europäer*innen zusammenhält.

Schloss Genshagen war für die Gruppe in den vergangenen Jahren Treffpunkt und abgeschiedener Arbeitsort – und bot nun den Raum, ihre Thesen vor der Veröffentlichung des Buchs zu diskutieren, im kleinen, geschützten und gleichwohl hochkarätig besetzten Kreis.

Raum für offenen Diskurs jenseits des politischen Alltagsgeschäfts: Schloss Genshagen.

Und natürlich gibt es sie nicht, die eine Antwort auf die Frage, wie wir Europa verteidigen, es bewahren können vor dem Zerfall. Dafür aber jede Menge spannende Denkansätze – etwa den, dass das Wertschätzen von und Festhalten an nationaler Souveränität nicht gleichzusetzen sind mit der Ablehnung der europäischen Integration. Dies gilt insbesondere für die Staaten in Mittel- und Osteuropa, die ein Trauma eint, das wir als Westeuropäer lange nicht gesehen und anerkannt haben: immer wieder zerschlagen und aufgeteilt worden zu sein von Großmächten aus dem Westen und dem Osten im Zeitalter zweier Weltkriege.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat uns bewusstgemacht, dass der Satz „Wir könnten die nächsten sein“ für die baltischen Staaten, für Polen und für Finnland eben nicht nur eine Floskel, sondern Formulierung einer realen Bedrohung ist.

Kann hier auch eine Antwort liegen, wie wir Europa stabilisieren können – in dem Versprechen der Sicherheit, die die Europäische Union ihren Mitgliedsstaaten gewährt? Die Bestrebungen, der Ukraine den EU-Beitritt zu ermöglichen, sprechen dafür. Und schließlich hat die EU vor elf Jahren den Friedensnobelpreis bekommen, für Jahrzehnte des Engagements für Frieden und Versöhnung. Erinnert sich daran noch jemand? Ist das heute mehr als eine Anekdote? Auch solche überspitzten Fragen haben wir diskutiert. Denn während die EU auf nationaler Ebene für alles Mögliche als Sündenbock herhalten muss, geraten die großartigen Errungenschaften der europäischen Integration allzu leicht aus dem Blick. Und gerade in dieser Zeit, in der eine Vielzahl an Krisen das europäische Fundament erschüttert, wird deutlich, dass die meisten dieser Krisen nach einer europäischen Antwort verlangen.

Europa ist mehr als Zahlen und Fakten – aber was genau ist es? Nach meiner Überzeugung ist und bleibt Europa ein großes Projekt der Hoffnung, und genau die dürfen wir nicht verlieren, sondern müssen sie nach vorne stellen, wenn es darum geht, für die europäische Integration zu werben, wenn nicht gar zu kämpfen. Selbstbewusst, aber ohne Arroganz – gerade gegenüber denjenigen, deren Idee von Europa sich unterscheiden mag von unserer eigenen.  

Auf Augenhöhe, kontrovers und inspirierend: die Diskussionen auf Schloss Genshagen.

Das nehme ich mit aus Genshagen: Ideen von Europa gibt es viele, die Identifikation damit speist sich für die Europäer*innen aus den unterschiedlichsten Quellen, je nach Herkunft, Geschichte, individuellem Erleben. Die Entscheidung, die Distanz zwischen den unterschiedlichen Vorstellungen von Europa nicht wachsen zu lassen, sondern sie zu verringern und vermeintlich Trennendes zu überwinden, treffen wir alle selbst.

Ich danke der Stiftung Genshagen herzlich dafür, dass sie den Raum schafft für einen offenen Austausch zu Ideen und Visionen, an einem Ort, an dem das politische Tagesgeschäft außen vor bleiben darf. Dass ich Teil dieses Austauschs sein durfte, empfinde ich als große Ehre.

Website der Stiftung Genshagen