Stimmen aus den baltischen Staaten zum Krieg in der Ukraine

Bei meiner Sommertour durch die baltischen Staaten bin ich den unterschiedlichsten Menschen begegnet. Jeder und jede hat eine Meinung zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und zu der Gefahr, die daraus für Estland, Lettland und Litauen erwächst. Diese Meinungen gebe ich hier möglichst ungefiltert wieder – aufgrund der nötigen Übersetzung als sinngemäße Zitate.

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Jānis, Riga, Lettland:

Bei Ausbruch des Krieges hatten wir alle Angst. Im Laufe der Wochen hat sich das geändert, viele meiner Freunde denken jetzt, dass die russische Armee ein Witz ist. Ich denke das nicht, schon gar nicht vor dem Hintergrund unserer Geschichte mit jahrzehntelanger sowjetischer Besatzung und der Deportation tausender Menschen. Was die Russen heute in der Ukraine machen, kennen wir alle aus dem Geschichtsunterricht. Natürlich berührt uns das.


Triine, Pärnu, Estland:

Die ersten Tage waren schlimm, wir waren alle verängstigt. Inzwischen muss ich zugeben, dass ich mich an die Nachrichten vom Krieg gewöhnt habe. Man nimmt das mittlerweile so hin und schreckt nur noch bei Schlagzeilen von wirklich schlimmen Kriegsverbrechen auf – und ich hasse es, dass es so ist! Ich selbst fühle mich aktuell wenig bedroht. Als hier vor einiger Zeit überall ganz offiziell Schutzräume ausgewiesen wurden, in denen die Bevölkerung im Falle eines Angriffs Unterschlupf suchen könnte, war das allerdings schon ein mulmiges Gefühl.


Māris, Kārsava, Lettland:

Ich lebe nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Diese Nähe macht mir aber keine besondere Angst. Unsere Hauptstadt Riga liegt nur 200 Kilometer von hier weg. Wenn man den Kriegsverlauf beobachtet, weiß man, dass es absolut keinen Unterschied macht, ob man sich hier oder dort befindet. Wenn die russische Armee kommt, kann sie nichts stoppen. Es wird vielleicht nicht jetzt passieren, da alle russischen Kräfte in der Ukraine gebunden sind. Aber ja, natürlich fühle ich mich bedroht.


Rait, Järva, Estland:

Die Großmutter meiner Frau gehört zu den Menschen, die zu Sowjetzeiten nach Sibirien deportiert wurden und erst nach Jahrzehnten zurückkamen. Als der Krieg ausgebrochen ist, hat sie geweint und uns angefleht, dass meine Frau sofort mit den Kindern packen und nach Australien fliegen soll, denn wir haben Verwandte dort. Das bleibt eine Option. Ich würde in diesem Fall im Land bleiben. Ich bin Jäger, ich weiß, wo meine Waffen stehen.


Remigijus, Vilnius, Litauen:

Am Anfang, bei Ausbruch des Krieges, hatten wir alle Angst. Schon ein paar Raketen wären ein Problem und könnten einen Großteil unseres kleinen Landes zerstören. Mittlerweile glaubt aber eigentlich kaum jemand noch so richtig dran, dass Russland auch Litauen angreifen wird.

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Andžela, Riga, Lettland*:

Am 24. Februar hatte ich Blumen für eine Freundin zum Geburtstag gekauft, aber mit diesen schönen Blumen durch die Stadt zu laufen, kam mir wie Verrat an der Ukraine vor. Meine Freundin und ich haben die Blumen deshalb zur ukrainischen Botschaft gebracht, um Solidarität zu zeigen. An diesem Tag habe ich angefangen, Fluchtpläne zu schmieden, falls die russische Armee auch in Lettland einfällt. Ich habe Kontakt zu Freunden und Freundinnen im Ausland aufgenommen und habe gefragt, bei wem ich unterkommen könnte, falls das nötig werden sollte. Heute hoffe ich, dass die Abschreckung durch die NATO Russland davon abhält, uns zu attackieren, aber sicher sein können wir uns nicht. Die Bedrohung ist real, sowohl von außen, als auch von innen durch die gesellschaftliche Spaltung Lettlands.

* Andžela hat ihre Gedanken ausführlich aufgeschrieben. Hier geht es zu ihrem sehr lesenswerten ungekürzten Statement (Englisch).


Annika, Viimsi, Estland:

Alle Familien in meinem Umfeld haben einen Plan für den Fall, dass es passiert – dass Russland uns angreift. Alle! Freunde von mir haben ein Haus in Schweden, ich kenne den Zugangscode, der die Tür öffnet. Meine Kinder und ich könnten jederzeit dorthin, sollte das Unvorstellbare passieren, das für uns eben nicht unvorstellbar ist. Mein Mann würde aber in Estland bleiben, um das Land zu verteidigen.

Ich habe früher als Immobilienmaklerin gearbeitet und erinnere mich, dass ich einem älteren Herren, der sehr durch die Erfahrungen in der Sowjetzeit geprägt war, ein Haus verkauft habe. Bedingung für ihn war, dass das Haus einen Bunker oder Schutzraum haben musste. Damals fanden wir das etwas lustig, befremdlich. Heute nicht mehr.


Aleksandrs, Riga, Lettland:

Angesichts unserer Einbindung in NATO und EU habe ich wenig Angst, dass Russland uns angreift. Die Russen sind wahnsinnig, aber nicht so wahnsinnig, dass sie das wagen würden. Vorbereiten sollten wir uns dennoch. Unsere Armee ist leider nicht sehr effektiv. Was die Wiedereinführung der Wehrpflicht bei uns angeht, bin ich zwiegespalten, eigentlich finde ich die Maßnahme richtig. Allerdings befürchte ich, dass das Geld, was dann in die Ausbildung der Wehrpflichtigen gesteckt wird, fehlt, um unsere Armee mit der nötigen Technologie auszustatten.

Die größere Bedrohung sehe ich ohnehin im Inneren unseres Landes: Es gibt in Lettland viele Menschen, die mit Russland sympathisieren. Du begegnest Deinen Nachbarn und weißt, sie unterstützen den Genozid in der Ukraine. Etwa 30 Prozent der Russisch sprechenden Menschen in Lettland sind auf Seiten der Ukraine, weitere 30 Prozent auf Seiten Russlands. Der Rest ist eine graue Masse, genau die macht mir Angst. Wir müssen alles für die Integration dieser unentschlossenen Menschen in die lettische Gesellschaft tun, statt die Konfrontation zu suchen.