Von der Planstadt zur freien Wirtschaftszone: ein Besuch in Naujoji Akmenė

Besuch beim Bürgermeister von Naujoji Akmenė, Vitalijus Mitrofanovas. Der rote Flammenkreis im Wappen symbolisiert den Ursprung der Stadt, die Herstellung von Zement. Die Spitzhacken oben stehen für den historischen Bergbau in der Region.
Besuch beim Bürgermeister von Naujoji Akmenė, Vitalijus Mitrofanovas. Der rote Flammenkreis im Wappen symbolisiert den Ursprung der Stadt, die Herstellung von Zement. Die Spitzhacken oben stehen für den historischen Bergbau in der Region.

„Wir stehen vor großen Herausforderungen, aber ich sehe darin mehr Chancen als Probleme.“ Das sagt Vitalijus Mitrofanovas, Bürgermeister von Naujoji Akmenė, einer der jüngsten Städte Litauens. Er gehört zu den Kolleg*innen im Kongress der Gemeinden und Regionen Europas, die ich auf meiner Sommertour in den baltischen Staaten besucht habe.

Ähnlich wie bei uns in Brandenburg etwa Schwedt und Eisenhüttenstadt ist Naujoji Akmenė als sozialistische Planstadt gegründet worden, und zwar 1952 im Zusammenhang mit der Ansiedlung eines großen Zementwerks dort. Sämtliche Infrastruktur wurde damals aus dem Boden gestampft, Naujoji Akmenė erhielt unter anderem einen Kulturpalast im Stil des Sozialistischen Klassizismus und einen eigenen Bahnanschluss für das Zementwerk. Über Jahrzehnte wurden von dort Hunderttausende Tonnen Zement in Richtung Moskau geliefert.

In Naujoji Akmenė erinnert noch einiges an die Sowjetzeiten – etwa dieses Wandgemälde am örtlichen Postgebäude.

Als erster der drei baltischen Staaten erklärte Litauen am 11. März 1990 einseitig seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion, erst anderthalb Jahre später erkannte die sowjetische Führung diese an: nach Jahrzehnten erst deutscher und dann sowjetischer Besatzung ein Sieg für Frieden und Freiheit in Estland, Lettland und Litauen. Für die Stadt Naujoji Akmenė bedeutete das allerdings auch den Verlust der Existenzgrundlage. Denn Sowjetunion beziehungsweise Russische Föderation nahmen keinen Zement aus Litauen mehr ab und kappten die Energieversorgung. Plötzlich war knapp die Hälfte der Bevölkerung in der Region Akmenė arbeitslos, es folgten Abwanderung im großen Stil und Niedergang – und der bis heute andauernde Transformationsprozess.

Den wichtigsten Impuls bekam dieser erst im Jahr 2012 mit der Erklärung der Freien Wirtschaftszone Akmenė: Auf 49 Jahre hat der Staat Litauen auf einem eng abgesteckten Gebiet von knapp hundert Hektar eine Sonderwirtschaftszone geschaffen – mittendrin: Naujoji Akmenė. „Bis vor 15 Jahren waren wir eine sterbende Stadt“, sagt Vitalijus Mitrofanovas, der seit 2008 hier Bürgermeister ist. Seit 2012 nun müssen Unternehmen hier zehn Jahre lang null Steuern zahlen, ab dem elften Jahr dann einen um die Hälfte des in Litauen üblichen Satzes reduzierten Betrag.

Der Plan scheint aufzugehen, viele Unternehmen haben sich seither angesiedelt, weitere werden laut Aussage des Bürgermeisters folgen, im Gewerbegebiet wird fleißig gebaut. Unter anderem lässt der schwedische Ikea-Konzern hier von einer Partnerfirma im großen Stil Spanplatten produzieren, bis 2023 soll eine Möbelfabrik mit rund tausend Arbeitsplätzen entstehen. Auch das Zementwerk ist weiter in Betrieb, inzwischen gehört es einer deutschen Firma und ist eines der größten Industrieunternehmen in ganz Litauen. Dessen größte Herausforderung ist die Reduktion des CO2-Ausstoßes: Ein Großteil der zur Produktion eingesetzten Energie stamme bereits aus regenerativen Quellen. Der Ausstoß des Treibhausgases durch die Produktion soll zudem durch die thermische Verwertung von Müll und die Umstellung von der Nass- auf Trockenzementproduktion verringert werden. Dieselben Herausforderungen hatte ich bereits im vergangenen Jahr bei meinem Besuch des CEMEX-Werks in Rüdersdorf kennen gelernt.

Zur Wahrheit gehört, dass man der Stadt den wirtschaftlichen Aufschwung, den die Sonderwirtschaftszone der Region beschert hat, bis heute nicht wirklich ansieht: Andere litauische Kommunen machten auf mich tatsächlich einen wohlhabenderen Eindruck. Die Frage, ob die nicht vorhandenen Gewerbesteuereinnahmen nicht zum Problem für Akmenė werden könnten, verneint der Bürgermeister aber kategorisch: Dank der neuen Arbeitsplätze blieben die Menschen in der Region statt abzuwandern, kauften vor Ort ein, so bleibe das Geld in der Stadt. Bei kommunalen Gebäuden betrage die Sanierungsquote hundert Prozent, versorgt würden diese mit Solarenergie aus Photovoltaikanlagen auf den Dächern.

Heute liegt die Arbeitslosenquote in Naujoji Akmenė bei zirka 13 Prozent und damit zwar immer noch über dem Landesdurchschnitt von neun Prozent, aber doch deutlich unter den 45 Prozent Anfang der 1990er Jahre. Nach Jahrzehnten der Abwanderung hofft der Bürgermeister auch darauf, dass die Bevölkerungszahl der Gemeinde Akmenė bald wieder wächst – von momentan gut 20.000 auf 30.000 Einwohner*innen.

Helfen dabei könnte eine gezielte Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland. Geflüchtete aus der Ukraine werden hier mit offenen Armen empfangen, innerhalb von zwei Wochen hat die Gemeinde mit zahlreichen Spenden aus der Bevölkerung und ortsansässiger Firmen eine ehemalige Poliklinik zur Unterkunft ausgebaut, mehr als 350 Geflüchtete seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Ort untergebracht. Knapp 15 Prozent von ihnen haben bereits Arbeit in der Stadt gefunden. Allerdings ist das Aufenthaltsrecht für Geflüchtete in Litauen auf ein Jahr beschränkt, ihr Status nach Ablauf dieses Jahres komplett unklar. Litauens Einwanderungspolitik sei de facto nicht vorhanden, kritisiert Bürgermeister Mitrofanovas – und mit Schuld am Mangel an Arbeitskräften. Wenn er sich eins von der Zentralregierung wünscht, sei das ein ordentliches Einwanderungsrecht – nicht zuletzt um Wachstum und Transformation seiner Gemeinde zu sichern.

Freundlich empfangen wurden wir in der zur Flüchtlingsunterkunft ausgebauten ehemaligen Poliklinik von den dort untergebrachten Ukrainerinnen und ihren Kindern.

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