Die Europastraße 77 ist eine wichtige Transitstrecke: Wer von Kaliningrad ins russische Kernland fährt, nimmt diese Route – und kommt dabei zwangsläufig durch die litauische Stadt Tauragė, letzte Station meiner Sommertour durch die baltischen Staaten. Hier säumen durchgehend ukrainische und litauische Flaggen den Straßenrand – und Plakate, auf denen der russischen Propaganda Fakten entgegengesetzt werden: Unter anderem ist dort zu lesen, dass die „Spezial-Operation“ Putins in Wahrheit ein Angriffskrieg ist.
Die sehr klare Position von Tauragės Bürgermeister Dovydas Kaminskas zu Russland und zum Krieg in der Ukraine überrascht dann auch nicht: Bei meinem Besuch begegnet mir Unverständnis, dass Deutschland sich überhaupt so lange fast ausschließlich auf Russland verlassen hat, was die Energieversorgung angeht, außerdem fordert Kaminskas so deutlich wie kein anderer meiner Gesprächspartner im Laufe der Reise härtere Sanktionen gegen Russland und möglichst dessen komplette Isolation. Wie sein Kollege Vitalijus Mitrofanovas in Naujoji Akmenė, kritisiert er zudem das litauische Einwanderungsrecht scharf, wünscht sich dringend, den etwa 500 Ukrainer*innen, die hier angekommen sind und von denen viele schon Arbeit gefunden haben, eine dauerhafte Perspektive bieten zu können. Natürlich komme die russische Propaganda auch in seiner Stadt an und verfange bei einigen: „Denen sage ich, sie können gerne nach Russland ziehen. Das lehnen die meisten dann doch dankend ab.“
Diese selbstbewusste Haltung des 33-jährigen Bürgermeisters kommt nicht von ungefähr: Gerade hat sich Tauragė als eine von 100 Städten in der EU auf den Weg gemacht, bis 2030 klimaneutral zu werden, erklärtes Ziel ist es, damit auch die Lebensqualität in der Stadt zu verbessern. Noch weiter zu verbessern, muss es korrekterweise heißen. Denn in den vergangenen Jahren ist bereits viel passiert in der 38.000-Einwohner-Kommune, die auch mehrere kleinere Gemeinden umfasst. Der öffentliche Nahverkehr ist ausgebaut und mehrere Elektrobusse sind dafür angeschafft worden, außerdem hat Tauragė einen eigenen Windpark, der ebenfalls erweitert wird. Für das sichere Parken in Mehrfamilienhaus-Siedlungen hat die Stadt unlängst 75 kostenlos nutzbare Fahrradboxen angeschafft.
Und doch ist noch einiges zu tun für die Klimaneutralität 2030. Das zu erfassen und einen Plan zu entwickeln, dafür ist in Tauragė Agne Petrosiute zuständig, die Nachhaltigkeitsbeauftragte: „Sie ist die Expertin und ich mache, was sie sagt“, erklärt der Bürgermeister schmunzelnd. Radwege ausbauen zum Beispiel, da gibt es noch viel Nachholbedarf. Neue Unternehmen ansiedeln gehört durchaus auch dazu – solche, die sich mit dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung vereinbaren lassen. Mehrere Windkraft-Firmen haben sich bereits hier niedergelassen, außerdem wird gerade eine Fabrik für veganes Proteinpulver gebaut.
Um auf dem Weg zur Erfüllung der ambitionierten Ziele auch die Menschen vor Ort mitzunehmen, pflegt man in Tauragė eine sehr offene Debattenkultur: Die Gemeinde veranstaltet regelmäßig Diskussionsrunden, sucht den Austausch mit der Zivilgesellschaft auch über europaweit relevante gesellschaftspolitische Themen wie der Istanbul-Konvention oder den Rechten von LGBTQ*. Der Bürgermeister, der als international studierter Jurist vier Sprachen beherrscht und am Iron-Man-Wettbewerb teilnimmt, gibt zudem Motivationsseminare für Jugendliche.
„Climate neutral and smart cities“ heißt die EU-Mission, an der sich Tauragė beteiligt, als kleinste der teilnehmenden Städte europaweit. Sie sollen Vorreiter sein, was die Erfüllung des European Green Deal angeht. Wer Kaminskas und Petrosuite zuhört, spürt, dass sie diese Herausforderung aus tiefster Überzeugung annehmen.
Die EU-Mission „Climate neutral and smart cities“ auf der Seite der Europäischen Kommission