Auch in Łódź hatte ich Gelegenheit, alte Beziehungen neu zu beleben. Hier habe ich mich mit dem Vorsitzenden des Stadtrats Marcin Gołaszewski getroffen, den ich aus unserer gemeinsamen Arbeit im Kongress der Gemeinden und Regionen Europas kenne. In unseren Gesprächen ging es zunächst um die aktuelle politische Situation in Polen, später haben wir gemeinsam das Holocaust-Denkmal Radegast besucht, um der Opfer des NS-Regimes zu gedenken. Um die gemeinsame Geschichte von Deutschland und Polen und deren Auswirkung auf die Stadt Łódź ging es auch bei meinem anschließenden Besuch im Centrum Dialogu.
Empfangen wurden meine Mitarbeitenden und ich im Urząd Miasta, einem Gebäude, das 1882 als Teil des Juliusz Heinzl Palasts errichtet wurde und heute das Łodzer Rathaus beherbergt. Die Revitalisierung alter, größtenteils industrieller Gebäude ist typisch für Łódź und entlang der Piotrkowska Straße, an der auch das Rathaus steht, überall zu sehen.
Vom Rathaus wird jeden Tag pünktlich um 12 Uhr die Hymne der Stadt aus dem Fenster gespielt, eine alte Tradition, die einst vor Gefahren warnen sollte und heutzutage die Łódźer erfreut. Auch wir durften im Rahmen unseres Besuchs den Klängen lauschen. Anschließend führte Marcin Gołaszewski uns durch das Rathaus. Zunächst zeigte er uns die Ehrenbürger*innen-Galerie im kleinen Konferenzsaal. Łódź ist Polens wichtigste Stadt im Bereich der Filmindustrie und als solche auch international von Bedeutung. Folglich stammen viele der Ehrenbürger*innen der Stadt aus der Filmbranche, darunter Artur Brauner und Roman Polański.
Als nächstes ging es in den großen Konferenzsaal, in dem einmal im Monat die 40 Stadträte tagen. Schließlich fanden wir uns in Marcins Büro wieder. Bei Kaffee und Keksen berichtete Marcin nicht nur von seiner Arbeit als Vorsitzender des Stadtrats, sondern auch von seinen Befürchtungen und Hoffnungen bezüglich der im Herbst anstehenden nationalen Wahlen. Vor dem Hintergrund eines Erstarkens der rechts-populistischen PiS und der rechtsradikalen Konförderation haben es liberale Politiker*innen wie Marcin Gołaszewski zur Zeit nicht leicht. Doch trotz persönlicher Drohungen nimmt Marcin kein Blatt vor den Mund und lässt sich in seinen Partnerschaftsbeziehungen zu Deutschland und anderen Ländern nicht beirren. Durch den Austausch von Gastgeschenken wurde die deutsch-polnische Beziehung noch einmal bestärkt.
Anschließend fuhren wir gemeinsam zur Holocaust-Gedenkstätte Radegast ins ehemalige Ghetto Litzmannstadt. Im Gedenken an die Opfer des NS-Regimes haben wir einen Kranz in den Farben von Łódź und Oranienburg niedergelegt. Bei der darauffolgenden Tour durch die Gedenkstätte erhielten wir einen tiefen Einblick in die Geschichte der Stadt Łódź, in der bis 1940 ein Drittel der Bevölkerung jüdisch war. 160.000 Jüd*innen wurden im Ghetto inhaftiert und vom Rest der Stadt isoliert. Der Bahnhof Radegast war ein Umschlagplatz von Lebensmitteln und Gütern. Ab 1941 wurde er jedoch auch für den Transport von Menschen genutzt, zunächst in die umliegenden Arbeitslager, später vor allem auch in die Vernichtungslager nach Kulmhof und Auschwitz. Als das Ghetto 1944 aufgelöst wurde, wurden die letzten Inhaftierten nach Sachsenhausen deportiert. Die Geschichte von Łódź ist also eng mit der Geschichte meiner Heimatstadt verbunden.
Im Łódźer Ghetto starben mehr als 43.500 Personen. Viele sind auf dem der Gedenkstätte gegenüberliegenden Friedhof begraben, dem zweitgrößten jüdischen Friedhof Europas. An diesem kamen wir auf dem Weg ins Centrum Dialogu vorbei.
Das Centrum Dialogu liegt im „Park der Überlebenden“, der 2004 im Rahmen der Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag der Auflösung des Ghettos nach einer Idee von Halina Elczewska, einer Auschwitz-Überlebenden aus Łódź, angelegt wurde. Das Zentrum selbst wurde 2011 gegründet. Die Lage im „Park der Überlebenden“ wurde bewusst gewählt, denn der Fokus des Zentrums liegt auf Erinnerung, Geschichte und Identität der Stadt, die laut Joanna Podolska-Płocka, der Leiterin des Centrum Dialogu von Polen, Juden, Deutschen und Russen gegründet wurde. Der Patron des Zentrums ist Marek Edelman, der letzte überlebende Kommandeur des Aufstands im Warschauer Ghetto. Seine Werte, seinen unermüdlichen Kampf für die Demokratie, will das Zentrum weitergeben. Die Angebote richten sich nicht nur an Erwachsene und Jugendliche, sondern auch an Kinder ab 5 Jahren. In Workshops zu Mitgefühl und Empathie lernen sie, sich mit ihrer eigenen Identität auseinander zu setzen, miteinander ins Gespräch zu kommen und Gemeinschaft wertzuschätzen.
Identität ist auch das Thema des diesjährigen Festivals der vier Kulturen, das vom Centrum Dialogu organisiert wird und Łódź als Schmelztiegel der Kulturen und Nationalitäten feiert. Im Rahmen des Festivals spielen u.a. ukrainische Musiker in einer alten, russisch-orthodoxen Kirche. Das Centrum Dialogu baut Brücken zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft und zeigt Wege zu einem harmonischen Miteinander auf.
Begleitet wurden wir bei unserem Termin im Centrum Dialogu zusätzlich durch Olga Wesołowska, die über die Darstellung der jüdischen Kultur in deutschen und österreichischen Filmen der letzten Jahrzehnte promoviert und sich im Bereich des deutsch-polnischen wissenschaftlichen Austauschs, z.B. durch die Organisation von Sommerschulen, engagiert.
Die Aufarbeitung jüdischer Geschichte und das Sichtbarmachen jüdischer Kultur ist ein wichtiger Beitrag für Łódź, der Stadt, die einst zu einem Drittel aus Jüd*innen bestand und in der heute nur noch 200-300 Jüd*innen leben, von denen nur etwa 50 religiös aktiv sind. Es ist aber auch ein wichtiger Beitrag für Deutschland und Polen. Denn nur, wer sich die Vergangenheit ins Gedächtnis ruft, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.